Unsere Beziehungen zur EU pflegen, um die Schweiz zu stärken

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«Ich bewundere zutiefst den Frieden, den Europa uns beschert hat. Meine Falten zeigen noch das Unglück der Kriege, es wird mich nie verlassen. Aber jedes Mal, wenn ich mich morgens im Spiegel betrachte, sage ich: Michel, wir haben Frieden.»

Mit diesen Worten beendete der französische Philosoph Michel Serres 2019 im Fernsehen seine Liebeserklärung an Europa. Der 1930 im Südwesten Frankreichs geborene Akademiker schilderte die Kriege, die seine Jugend geprägt hatten: der Spanische Bürgerkrieg und die traumatisierten Flüchtlinge, die in seiner Heimatregion aufgenommen wurden, der Zweite Weltkrieg und die Kolonialkriege. Bis zu seinem dreissigsten Lebensjahr habe er nur den Krieg gekannt und viel Leid gesehen. Wenige Monate nach dieser öffentlichen Liebeserklärung an Europa verstarb Michel Serres. Manchmal denke ich – verzeihen Sie mir –, dass er rechtzeitig gestorben ist: Dies ersparte ihm zumindest den Kummer über den Brexit oder die Uneinigkeit Frankreichs und Deutschlands bezüglich Hilfe an die zerbombte Ukraine.

Frieden fördern

Oftmals vergessen wir es ein wenig: Das Hauptziel der Erbauer:innen der Europäischen Union war es, den Frieden zu fördern. Durch wirtschaftlichen Wohlstand, den freien Verkehr von Personen, Waren und Dienstleistungen, durch Zusammenarbeit und Solidarität sollten bewaffnete Konflikte künftig vermieden werden. Nicht Staaten, sondern Menschen wollte man vereinen. Heute, fast 70 Jahre nach den Römischen Verträgen und bei der Wiederaufnahme von Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU geht es immer noch um dasselbe: gemeinsam stärker zu sein; Wohlstand, Sicherheit und Freiheit zu gewährleisten. Auch wenn die Schweiz kein EU-Mitglied ist, befindet sie sich historisch, kulturell und geografisch im Herzen Europas. Enge Beziehungen zu unseren Nachbarn werden unsere Souveränität nicht schwächen, im Gegenteil: Die Schweiz wird fähiger werden, die eigene Zukunft zu gestalten und ihre nationalen Interessen zu schützen.

Wichtige Abkommen für die Schweiz

Durch sorgfältige Verhandlungen kann die Schweiz einen kontinuierlichen und besser vorhersehbaren Zugang zum Binnenmarkt sicherstellen, was für unsere Exportwirtschaft von entscheidender Bedeutung ist. Und sie könnte in den Bereichen, die von den einzelnen Abkommen abgedeckt sind, enger in die Entscheidungsprozesse der EU eingebunden werden. Dadurch könnte die Schweiz an Diskussionen teilnehmen, die ihre Interessen berühren. Ein anschauliches Beispiel ist die wichtige Frage der Energieversorgung. Um Stromengpässe in der Schweiz zu vermeiden – und im Rahmen der Liberalisierung des Strommarktes – müssen die Schweizer Energieunternehmen in europäischen Gremien mitreden können. Das Abkommen wird zur Versorgungssicherheit und zur Stabilisierung des Netzes beitragen und den internationalen Stromhandel vereinfachen. Mit über 40 grenzüberschreitenden Verbindungspunkten ist unser Stromnetz eng mit dem der

Die Verhandlungen zum Erfolg bringen, im Interesse des Landes

Natürlich stehen lange und schwierige Auseinandersetzungen bevor. Der Lohnschutz oder die Streitschlichtung werden zu Recht Gegenstand intensiver Debatten sein. Aber ich bin mir sicher: Der erfolgreiche Abschluss dieser Verhandlungen wird zeigen, dass unser Land sich souverän in dauerhafte internationale Beziehungen einbringen kann – und zugleich seine nationale Identität und seine Entscheidungsautonomie zu wahren vermag.

Marie-France Roth Pasquier

MARIE-FRANCE ROTH PASQUIER wurde 1968 in Schwarzsee im Kanton Freiburg geboren. Ihre politische Karriere begann 2006 im Conseil général (Legislative) von Bulle. Sie stieg rasch auf: 2011 wurde sie in die Exekutive des Greyerzer Hauptortes gewählt, fünf Jahre später in den Grossen Rat und 2019 für die Mitte (damals CVP) in den Nationalrat. Sie ist Mitglieder der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur sowie der Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen. Roth Pasquier ist den Werten ihrer Partei verbunden, grenzt sich jedoch gerne von deren konservativerem Flügel ab, indem sie eine grünere, sozialere und europäischere Vision verfolgt. Die Freiburgerin, die Mitglied der Europäischen Bewegung Schweiz ist, hat an der Universität Lausanne Politikwissenschaften studiert und anschliessend an der Universität Leuven in Belgien ein Nachdiplomstudium in Europastudien absolviert. Begeistert von Geschichte und Soziologie des im Aufbau befindlichen Europas, brachte das Nein zum EWR 1992 ihr Interesse an einer diplomatischen Laufbahn ins Wanken. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Bulle.