Rückblick auf die bilateralen Verhandlungen nach dem EWR-Nein

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Das sehr knappe Nein zur Beteiligung der Schweiz am Vertragswerk zwischen den Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) mit der Europäischen Union über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) vom 6. Dezember 1992 hat eine Schockwelle ausgelöst. Das Ausscheren der Schweiz hatte negative Folgen für die übrigen damaligen Mitglieder der EFTA (Österreich, Liechtenstein, Schweden, Norwegen und Island), denn der EWR konnte auch für sie nicht in Kraft treten und musste neu verhandelt werden.

Leider setzte sich in politischen und wirtschaftlichen Kreisen das Narrativ durch, wonach das am 26. Mai 1992 gestellte Gesuch um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Gemeinschaft für das Nein zum EWR verantwortlich sei. Ich gehörte zu denen, die zu diesem Schritt geraten hatten damit die Schweiz bei der damals geplanten Ausarbeitung der europäischen Verfassung hätte mitwirken können. Im Januar 1993 erklärt der Bundesrat, dass die Schweiz bis auf Weiteres auf die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Gemeinschaft verzichtet.

Das Integrationsbüro, für das ich damals arbeitete, hat im Auftrag des Bundesrates die Ausarbeitung eines schweizerischen Vorschlags an die EU koordiniert. Vorgeschlagen wurden Verhandlungen in 15 Bereichen. Davon waren folgende an das Freihandelsabkommen von 1972 gekoppelt: Ursprungsregeln, passiver Textilveredelungsverkehr, verarbeitete Landwirtschaftsprodukte, technische Handelshemmnisse, öffentliches Beschaffungswesen (im Rahmen der WTO/ GATT-Regelungen), Produktehaftung, Tierschutzbestimmungen, Pflanzenschutzbestimmungen, geistiges Eigentum. Nicht an das Freihandelsabkommen gekoppelte Bereiche waren Luftverkehr, Strassenverkehr, Forschung, audiovisuelle Programme (MEDIA), Statistik sowie Erziehung/Bildung/Jugend. Das von mir als Chefunterhändler ausgehandelte und paraphierte Erasmus- Abkommen hätte vom EWR übernommen werden sollen. Es leistete jedoch noch viele Jahre gute Dienste für die Student:innen.

Am 9. November 1993 beschloss der EU-Rat die Aufnahme von Verhandlungen in vier Bereichen (Strassenverkehr; freier Personenverkehr; Forschung; freier Marktzugang für landwirtschaftliche Produkte) und soweit als möglich in zwei weiteren Bereichen (technische Handelshemmnisse; öffentliches Beschaffungswesen). Es galt das Prinzip des Parallelismus: Die verschiedenen Dossiers sollten zusammen verhandelt und abgeschlossen werden, da sie auch nur zusammen gelten können. Damit wurden zwei für die Schweiz politisch hochsensible Bereiche aufgenommen – der freie Personenverkehr und landwirtschaftliche Produkte –, während einige von der Schweiz vorgeschlagenen Bereiche von der EU vorerst beiseitegelassen wurden.

Weniger bekannt ist die Verärgerung in der EU über die Annahme der Alpeninitiative 1994. Diese war für uns Unterhändler:innen zuweilen noch stärker spürbar als nach dem EWR-Nein. Die Kommission und die Mitgliedstaaten empfanden sie als egoistischen, selbstgerechten Entscheid, den die Schweiz trotz europäischer Tragweite im Alleingang beschloss: der für die europäische Wirtschaft zentrale Nord-Süd-Strassenverkehr müsste um die Schweiz herum umgeleitet werden. Mit dem Bau der NEAT versuchte die Schweiz mit einer glaubwürdigen Schienenalternative diese Vergrämung zu lindern. Erst im Dezember 1994 eröffneten die Schweiz und die EU in Brüssel schliesslich die Verhandlungen zu den bilateralen Abkommen I. Ganze vier Jahre später, Ende 1998, wurden sich die Unterhändler:innen in Wien einig. Der Schweiz gelang es, sehr lange Übergangszeiten (25 Jahre) sowie Schutz- bzw. Ventilklauseln im Bereich der Personenfreizügigkeit durchzubringen. Das Parlament stimmte dem Abkommen im Oktober 1999 zu. Das Referendum dagegen kam zustande aber das Schweizer Volk sprach sich mit 67.2 Prozent für die Bilateralen I aus.

Ralph Friedländer

Ralph Friedländer

RALPH FRIEDLÄNDER wurde 1959 in Mosambik geboren und wuchs in Genf und Lugano auf. Er erhielt einen Master in Psychologie von der Universität Zürich. 1991 trat Friedländer der Bundesverwaltung im Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation bei. Er hat das Abkommen über die Teilnahme der Schweiz an «Erasmus» ausgehandelt und paraphiert. Anschliessend war er Unterhändler für verschiedene bilaterale Abkommen, inkl. des Abkommens über den freien Personenverkehr. Friedländer arbeitete später im Staatssekretariat für Wirtschaft, wo er die Schweiz in internationalen Rohstofforganisationen vertrat, und in der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit. Er vertrat die Schweiz im Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen sowie im Global Compact der Vereinten Nationen und war u.a. verantwortlich für die regionale Zusammenarbeit im Westbalkan. Seit 2020 leitet er die Geschäftsstelle der Beratenden Kommission für internationale Zusammenarbeit des Bundesrates, einer nichtparlamentarischen Kommission, welche die internationale Zusammenarbeit der Schweiz analysiert und dem Bundesrat Empfehlungen abgibt.